Kathrin Pilger: Stellungnahme zu Klaus Grafs Beitrag "Zur archivischen Problematik von Prüfungsunterlagen"
Klaus Graf thematisiert unter Punkt 2 (Die archivische Bewertung) seiner 1989 abgefaßten Ausarbeitung als besonderes Problem die "massenhaft anfallenden Einzelfallakten", für deren archivische Bewertung er drei Möglichkeiten sieht: 1. die vollständige Übernahme der Unterlagen ausgewählter prüfender Stellen, 2. die Auswahl aus den Unterlagen einer prüfenden Stelle (hier wird beispielhaft eine an den Namen der Prüflinge orientierte Buchstabenauswahl vorgeschlagen) sowie 3. eine Auswahl mehrerer oder aller prüfenden Stellen. Leider nennt der Autor lediglich ein einziges Kriterium, nach dem die Auswahl der Prüfungsunterlagen getroffen werden könnte; dieses Kriterium erweist sich zudem als völlig unzureichend. Obwohl Graf erkennt, daß bei "der Auswahl [...] darauf geachtet werden" sollte, daß "Geistes-, Sozial- und Naturwissenschaften in gleichem Ausmaß" überliefert werden sollten, schlägt er als Bewertungskriterium ein gegenüber den Inhalten neutrales Buchstabensample (wohl konventionell orientiert an den Namen der Prüflinge) vor. Hinter dieser Art des (mechanischen) Samplings steht die (falsche) Annahme einer horizontalen Gleichförmigkeit der Prüfungsakten; die Buchstabenauswahl zielt auf die Bewahrung eines vermeintlich 'repräsentativen' Ausschnitts der Grundgesamtheit, in dem alle vorkommenden Fälle musterhaft dokumentiert und gleichzeitig die durch die Gleichförmigkeit des Verfahrens entstehenden Redundanzen beseitigt werden. Dieses Ziel wird jedoch nicht erreicht; statt dessen werden die Varianzen des Prüfungsverfahrens getilgt: Die Vielfalt der Fächer, die Verschiedenheit der Prüfer und das breite Spektrum von Themen und Methoden werden nicht überliefert. Der Hauptgrund für die Untauglichkeit der zufälligen mechanischen Sampling-Methode liegt darin, daß sie die Spezifik des Prüfungsverfahrens weitgehend ignoriert. Anders nämlich als im Falle von hochformalisierten Verfahren, in denen die Verwaltung Daten nach weitgehend einheitlichen Regeln verarbeitet, wodurch im Ergebnis hohe Redundanzen und "typische" Fälle produziert werden (z.B. bei der KFZ-Anmeldung), besitzen universitäre und staatliche Prüfungsverfahren einen relativ schwachen Grad an Formalisierung. Das bedeutet: Es besteht im Prüfungsverfahren ein hohes Maß an Offenheit für eine Vielzahl von Fällen (verschiedene Fächer und Prüfer, unterschiedliche Themen und Methoden usw.), die je individuell bearbeitet werden. Eine Bewertung, die dieser Offenheit des Verfahren gerecht werden will, kann nur bei der Person des einzelnen Prüfers ansetzen. Aufgrund der beim Prüfer entstehenden 'partiellen‘ Redundanzen – jeder Prüfer vertritt ein bestimmtes Fach, prüft mit Vorliebe ganz bestimmte Themen und Schwerpunkte und diese zudem immer mehr oder weniger ähnlich, hat darüber hinaus ein bestimmtes System der individuellen Benotung, das er auf jeden Kandidaten in etwa gleich anwendet – ist es sinnvoll, grundsätzlich Akten eines jeden Prüfers ins Archiv zu übernehmen. Bewahrt man auch nur eine Akte eines jeden Prüders auf, so kann man schon von dieser einen Akte aus mit mehr als zufälliger Wahrscheinlichkeit auf die Beschaffenheit der anderen Akten desselben Prüfers zurückschließen. So lassen sich Ergebnisse, die später von einem Historiker oder einem anderen Forscher aus der Analyse der einen Akte des Prüfers gewonnen werden (wenn auch immer nur mit einem relativen Grad an Sicherheit) verallgemeinern. Allerdings kann sich auch dieser Rückschluß als problematisch erweisen, wenn der zeitliche Abstand zwischen zwei Akten zu groß wird, so daß sich zwischenzeitlich auch auf der Ebene des einzelnen Prüfers individuelle oder fachlich bedingte Verschiebungen (z. B. Schwerpunktverlagerungen oder methodische Weiterentwicklungen) vollzogen haben könnten. Um die sich daraus ergebende Gefahr einer Verzerrung zu kontrollieren, müssen die zeitlichen Schnitte zwischen den zu übernehmenden Akten möglichst dicht ausfallen (z. B. alle drei Jahre Übernahme einer Akte). Diese Auswahl (eine Akte pro Prüfer alle drei Jahre), von der empirischen Sozialforschung als 'disproprotional geschichtete’ Stichprobe bezeichnet, strebt ausdrücklich keine Repräsentatitvität im statistischen Sinne an. Neben dem Stichprobenverfahren müssen deshalb im Falle von Prüfungsakten immer auch die sogenannten 'besonderen‘ Einzelfälle im Zuge der Bewertungsmaßnahme herausgefiltert werden. Diese Einzelfälle lassen sich nicht über formale Regeln ermitteln. Richtig ist m. E. in diesem Zusammenhang Grafs grundsätzliche Forderung, bei der Bewertung Forschungsinteressen zu berücksichtigen, stellt doch die wissenschaftliche Forschung neben der Verwaltung die wichtigste Klientel des Archivs. Sicherlich verfehlt wäre es jedoch, wie der Autor es vorschlägt, allein "von der geschichtswissenschaftlichen Forschung" (als einzige Richtlinie, die der Archivar als Historiker eben kennt) auszugehen. Statt dessen wäre es wichtig, möglichst eine Vielzahl von Perspektiven bei der Bewertung und der Auswahl besonderer Einzelfälle zu berücksichtigen. Das forum-bewertung schafft dafür gute Voraussetzungen. Es bietet Gelegenheit, ganz verschiedene Perspektiven (aus z.B. ganz verschiedenen Disziplinen) zur Sprache zu bringen und diese in der Diskussion auf den kleinsten gemeinsamen Nenner für die Archivierung zu prüfen.